Gekürzter Text der Kulturwissenschaftlerin Anja-Maria Hakim. Die vollständige Version: Zuerst erschienen in üben & musizieren 6/2022. © 2022, Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
Genau genommen ist das Musizieren nach Noten eine abendländische Sonderentwicklung im Kontext der Klassik. Blickt man dagegen auf die Vielzahl der Musikkulturen weltweit, so dominieren hörbasierte (= aurale) und mündliche (= orale) gegenüber schriftlichen Vermittlungstraditionen,[1] sei es beim Erlernen indischer Kunstmusik, bei afrikanischen Meistertrommlern aus Ghana, den Samba-Gruppen in Rio de Janeiro, dem Gruppenmusizieren im indonesischen Gamelan oder den lockeren Sessions traditionell irischer MusikerInnen. In all diesen Fällen werden die Lernenden zu variationsreichem und improvisationsfreudigem Musizieren in ganz bestimmten musikalischen Stiltraditionen angeregt. Dies geschieht weniger durch verbale Anweisungen oder schriftliche Vorgaben als vielmehr durch langfristige Prozesse des Hörens, Nachmachens und Variierens von Figuren und Regeln. Nicht zuletzt angeregt durch die Popularmusik, den Jazz und die Weltmusik zeichnen sich in den vergangenen zwanzig Jahren zunehmend Initiativen auch im Rahmen der formalen, „klassischen“ Musikausbildung ab, welche die Entwicklung auditiver Fähigkeiten stärker fokussieren und dementsprechende Spielweisen in den Unterricht integrieren.
[1]vgl. die Unterscheidung von oralen, auralen und visuellen Formen der Musikvermittlung bei Grupe, Gerd: „Ohne Noten kann ich nicht spielen! Über Lehren und Lernen nicht-westlicher Musik“, in: Lüderwaldt, Andreas (Hg.): Contemporary Gamelan Music. 3. Internationales Gamelan Musik Festival Bremen 2006. 25 Jahre Arum Sih, Bremen 2007, S. 79-90, hier: S. 81.
Komplexe Fähigkeiten wie Laufen, Sprechen und Singen können Kinder nur durch Nachahmung erlernen. Auch Spiel nach Gehör ist eine Form des Nachahmungslernens, genauer: ein akustisches Modell-Lernen, und bedeutet, dass eine unbekannte erklingende Musik hörbasiert, ohne Hilfe von Notation auf einem Instrument ausgeführt wird.[2]
Häufiges Spiel nach Gehör trainiert die Ohr- Hand-Koordination und befähigt Musizierende, musikalische Ideen direkt umzusetzen, ohne über die passenden Fingersätze nachdenken zu müssen oder Griffe am Instrument zu suchen. Durch Spiel nach Gehör lernen Instrumentalschülerinnen und Schüler, musikalische Klänge direkt in geeignete sensomotorische Bewegungsabläufe am Instrument zu überführen. Dabei erwerben sie ein überwiegend implizites Körperwissen, ihr musikalisches Empfinden wird mit dem Körpergedächtnis verknüpft.
[2] vgl. Hakim, Anja-Maria/Bullerjahn, Claudia: „Spiel nach Gehör auf der Violine. Wie beeinflusst musikalische Vorerfahrung die Imitation kulturell vertrauter und fremder Melodiemuster?“, in: Musikpsychologie, Jg. 28, 2019, S. 213-251, hier: S. 215-217.
Die Voraussetzung für ausdrucksvolles Musizieren ist, dass eine innere Klangvorstellung existiert, das heißt eine präzise Idee, wie etwas klingen soll. Beim Spiel nach Gehör bildet sich die Klangvorstellung rein aus auditiven Informationen des Arbeitsgedächtnisses, dagegen wird sie beim Blattspiel visuell erzeugt. Das Auswendigspiel wiederum beruht auf auditiven Informationen des Langzeitgedächtnisses, die jedoch unterschiedlich gebildet werden können: Im „klassischen“ Sektor wird in der Regel zuerst nach Noten gespielt und danach auswendig gelernt. Nach der Suzuki-Methode wird dagegen ein Stück zuerst so oft angehört, bis es aus der Erinnerung ohne Noten nachgespielt werden kann. Speziell bei letzterem Lernweg leitet der Klang die musikalische Umsetzung am Instrument. Durch vermehrtes Spiel nach Gehör kann die ausdrucksvolle musikalische Gestaltung von Anfang an Hauptbestandteil des Instrumentalunterrichts sein.
Diese Zusammenhänge verdeutlichen, wie wichtig es ist, dass sich beim Musizierenlernen eine verinnerlichte musikalische Klangvorstellung bilden kann: Bevor abstrakte Konzepte wie Notenzeichen, Intervallbeziehungen oder kadenzierende Schlussfolgen eingeführt werden, sollten die spezifischen musikalischen Klänge durch vielfältige Hör- und Spielerfahrungen vertraut sein. Gerade bei Heranwachsenden ist es wichtig, dass vor einer begrifflich-formalen Repräsentation immer zuerst ein erfahrungsbezogenes Lernen stattgefunden hat. Besonders Anfängerinnen und Anfänger werden im Instrumentalunterricht durch eine notenbasierte Vermittlung dazu verleitet, diesen grundlegenden Lernschritt zu übergehen. Das Lernen mittels Notation scheint zwar anfangs schneller zu gehen, führt jedoch zu einer gewissen Einseitigkeit durch die Ausrichtung auf reproduktive Musizierformen und zu Einschränkungen in der spontanen Sprach- und Variationsfähigkeit am Instrument. Das Lernen nach Gehör geht zunächst langsamer voran, ist dafür aber nachhaltiger und eröffnet eine größere Vielfalt an Musizierformen.[3]
[3] Kulturvergleichende Untersuchungen deuten an, dass eine gut ausgebildete Klangvorstellung auch das Spiel nach Gehör von Melodien aus weniger vertrauten Musikstilen unterstützt (vgl. Hakim/Bullerjahn, S. 243).
Das Spielen nach Gehör kommt auch den Prinzipien der Wahrnehmung entgegen, denn musikalische Klänge werden nicht als isolierte Noten, sondern als sinnvolle Bedeutungseinheiten wahrgenommen. Das Musizieren ohne Noten trainiert auch das musikalische Gedächtnis. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass zahlreiche mündliche Musiktraditionen das Auswendiglernen und Musizieren mit sprachlichen Merkhilfen, den Mnemotechniken, kombinieren. Die Trommelsprachen der nordindischen oder schwarzafrikanischen Musikkulturen beispielsweise unterstützen das Spielen nach Gehör, indem sie die gewünschte Klangerzeugung lautmalerisch nachahmen und strukturieren. Aber auch andere sprachliche Systematisierungen und sogenannte kognitive Konzepte wie Solmisation, Tonbezeichnungen oder Harmonielehre sind wichtige explizite Ergänzungen für das intuitive Hör- bzw. Spielerlebnis. Verstehen Musizierende harmonische Verläufe, so fällt es ihnen leichter, Akkorde nach Gehör zu spielen.[4] Gerade die Verbindung von implizitem und explizitem Lernen fördert ein nachhaltiges Erinnern und spontanes Anwenden, wie es beim Improvisieren – z. B. im Jazz – benötigt wird.
[4] Woody, Robert H.: „Musicians’ use of harmonic cognitive strategies when playing by ear“, in: Psychology of Music, Bd. 48, 2020, Heft 5, S. 674-692.
Instrumentalunterricht, der in der Tradition der abendländischen Klassik steht, profitiert von einem Blick auf kulturelle Praktiken, in denen das Spiel nach Gehör fest verankert ist. Dazu gehört, dass man ein im Radio oder Internet erklingendes Lied auf dem Instrument nachspielen kann, zu einem bekannten Stück eigene Variationen entwickeln oder mit anderen MusikerInnen spontan jammen kann. Kulturelle Praktiken des Nach-Gehör-Spielens können den Habitus eines autonomen und kreativen Musizierens entwickeln und damit die Spielfreude langfristig fördern. Sie bilden auch eine solide Grundlage für einen selbstbestimmten künstlerischen Schaffensprozess.
Autorin: Anja-Maria Hakim studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis. Sie forscht an der Justus-Liebig-Universität Gießen kulturvergleichend zum Spiel nach Gehör sowie zur kulturellen Bildung und sozialen Teilhabe mit Musik.
Quelle: https://www.kukudu.at